Senza Misura, 2018

Vom Bemessen ins Maßlose

Mal zögernde, mal dynamische Orgelklänge schweben durch den Raum der Bremer Kirche St. Stephani: Vereinzelt, zumeist nur ein Ton nach dem anderen, manchmal aber auch wuchtiger, mit drei Tönen zugleich, bewegen sich die Klänge wie langsame Schritte durch den Kirchenraum.

Was während der Uraufführung am 12. Oktober 2018 in dem schlichten neugotischen Kirchenschiff feierlich anmutete, ist kein Stück neuer Kirchenmusik, sondern die akustische Manifestation von Nora Olearius’ Arbeit Senza Misura, die die Konzeptkünstlerin in intensiver Auseinandersetzung mit dem Bau sowie der Orgel der Stephanikirche geschaffen hat. Nicht das Klangerlebnis stand für sie dabei zunächst im Vordergrund, sondern die genaue Vermessung des Kirchenraumes. Olearius unterteilte die sakrale Architektur in einzelne Abschnitte, die sie in einem festgelegten Rundgang genau vermaß: vom nördlichen Querschiff über den Chor und das südliche Querschiff bis zum Hauptschiff der Kirche. Danach übertrug sie die Maßzahlen auf die Manuale der Orgel, wobei einzeln gesetzte Töne je für Länge, Breite und Höhe der verschiedenen Teile des Gebäudes stehen, während Dreiklänge das jeweilige Raumvolumen repräsentieren. Den so ermittelten Klängen wies sie unterschiedliche Register und damit Klangfarben zu, um sie zuletzt in die Notenschrift zu übertragen.

Wesentlich inspiriert war sie dabei durch die dem griechischen Philosophen und Mathematiker Pythagoras zugeschriebene Erkenntnis, dass sich Musikintervalle innerhalb der Tonleiter durch Verhältnisse ganzer Zahlen zueinander beschreiben lassen, da jeder Ton eine bestimmte.

mathematisch darstellbare Schwingungsfrequenz hat. Die Verbindung von Zahlen und Musik sowie die Vorstellung, Deide als Sprachen aufzufassen, die durch eine Übersetzung zusammengebracht werden können, ist die grundlegende Idee von Senza Misura.

Akiko Bernhöft und Eva Fischer-Hausdorf
aus dem Katalog Nora Olearius, A-H, Bremen 2021